Als ich noch an meiner Masterarbeit schrieb und Erfolgsfaktoren von einzelnen Destinationen in der Literatur zu identifizieren versuchte, bin ich auf das Konzept St. Galler Modell von Destinationsmanagement von Prof. Dr. Pietro Beritelli aufmerksam geworden. So begann ich dann mit zwei wichtigsten Erkenntnissen zu arbeiten: 1. Destinationen seien durch strategische Geschäftseinheiten zu ersetzen, weil sie ein besseres Verständnis und die Planung von strategisch wichtigen Geschäftsfeldern ermöglichen; 2. Freunde sowie Verwandte sind eine der von den Reisenden am meisten genutzten Informationsquellen. Aber es brauchte mehr als nur die zwei Punkte. So ist dieses Interview mit Prof. Dr. Pietro Beritelli entstanden. Prof. Dr. Pietro Beritelli ist Mitautor mehrerer Bücher und zahlreicher Publikationen zum Thema Destinationsmanagement. Seit 2003 ist er für das Institut Systemisches Management und Public Governance an der Universität St. Gallen tätig. Pietro Beritelli ist auch Verwaltungsratspräsident der Tourismusorganisation Heidiland Tourismus AG und Vorstandspräsident von Zürioberland Tourismus.
Prof. Beritelli, wie würden Sie sich kurz beschreiben?
Kein typischer Akademiker und immer im Wechselspiel mit der Praxis.
Wie sind Sie mit Destinationen in Berührung gekommen?
Mein Spezialgebiet ist immer Tourismus gewesen. An der HSG habe ich Tourismus studiert. Zu diesem Thema habe ich auch später doktoriert und habilitiert. Nach dem Studium ging ich zunächst für 5 Jahre an die Höhere Fachschule für Tourismus im Engadin. Danach war ich nochmals 5 Jahre an der Fachhochschule in Chur für Kurse im Tourismus verantwortlich. Aktuell bin ich an der HSG in der Lehre und Forschung tätig, u.a. als Leiter Masterstudiengang Marketing und Communications Management.
Nun zum Aktuellen: Wie geht es der Tourismusbranche heute?
Wir haben früher sehr stark die Verantwortung an die Tourismusorganisationen, die ein komplexes Umfeld des Tourismus in einem Ort koordinieren sollten, abgegeben. Diese Institutionen werden in reichen Ländern wie der Schweiz gut finanziert, u.a. durch den Staat oder Kurtaxen. So gibt man diesen Organisationen Geld, um allgemein – und das ist das Problem – Marketing zu machen. Aber wenn man Marketing macht, ohne das Produkt zu haben, weil das Erlebnis mit Leistungsträgern, die Ihnen etwas verkaufen, vor Ort stattfindet, kommt man automatisch zum Schluss: Jetzt muss man ein bisschen Werbung machen oder als Intermediär beim Tour Operator agieren. Das hat natürlich nicht so funktioniert. Wir haben schnell gesehen, dass nicht der Erfolg, sondern der Misserfolg einfacher nachzuweisen ist. Von dort aus sind wir auch gestartet. Danach haben wir uns den Tourismus anders angeschaut und anhand GPS-Daten Ströme identifiziert. Die Gäste bewegen sich also in gewissen Strömen. Wenn man den Gästen in diesen Strömen, die einigermassen homogen sind, folgt und beobachtet, was die Gäste machen, hat man die Antwort darauf, was gut oder weniger gut läuft und wer mit wem zusammenarbeiten sollte.
Bleiben wir beim Thema Destinationsmanagement. Wie geht es Schweizer Destinationen heute?
Es gibt zwei Bereiche, die man sich anschauen muss. Zum einen sind es Zielgebiete und Destinationen selbst. Manchmal hat man hier ein verfälschtes Bild, weil man den Tourismuserfolg immer wieder anhand Logiernächte misst. Die Variable sagt aber nicht aus, ob es den Betrieben gut oder schlecht geht und ob Formen des Tourismus sinnvoll, nützlich oder nachhaltig sind.
Aus den Zahlen zum Reisemarkt Schweiz wissen wir zum Beispiel, dass 40% der Reisen zum Segment «Visiting Friends and Relatives» gehören. Je mehr sich die Gesellschaft öffnet und je flexibler Unterkunftsformen sind, desto weniger aussagekräftig sind die Logiernächte. Ich stelle auch fest, dass der Tourismus in der Schweiz eine Folge des Wohlstands ist. Ausserdem betrachten viele Touristen die Schweiz auch als eines der Reiseziele, das sie einmal im Leben besuchen wollen. Das hat mit Tradition und Geschichte zu tun: Der Mythos der Alpen wurde vor etwa 150 vor allem in der Schweiz und über die Reisen in der Schweiz aufgebaut.
Der zweite Faktor ist die Wirtschaft: Der Geschäftstourismus ist ein wichtiger Folgefaktor der florierenden Wirtschaft. Je besser die Wirtschaft läuft, desto mehr Geschäftsreisen gibt es. Grundsätzlich geht es um ein Gefüge zwischen Wirtschaft, Freizeit und Lebensqualität, die dazu führen, dass alle Tourismusformen davon profitieren können. Wenn ich den Tourismus so zu messen versuche, ist er im Vergleich zu den vorigen Jahren sicher immer noch gut unterwegs. Die Bevölkerungsentwicklung stärkt auch diese Möglichkeiten und Potenziale für die Konsumenten.
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Destinationen auf kleine Organisationen reduziert, die für ein Gebiet alles lösen müssen. Die Tourismusorganisationen stehen so unter Druck, dass man mehr Logiernächte produzieren oder immer mehr tun muss, um sich zu legitimieren. Ich bin schon der Meinung, dass eine existenzielle Krise da ist. Stellen Sie sich vor, in der Vergangenheit wurden Tourismusorganisationen lokal gegründet, um den Gästen zu helfen und ihnen nötige Informationen zur Verfügung zu stellen. In Deutschland hiessen sie früher und teilweise heute noch Verschönerungsvereine, in der Schweiz eher Kur- oder Tourismusvereine. Und sie wurden durch Leistungsträger wie Hotels und andere Akteure freiwillig bezahlt. Damals war die Welt noch einfach. Heute müssen sie die Gäste holen, ganze Kommunikationsaufgaben übernehmen und vieles mehr. Die Gäste kommen aber nur dann, wenn es vor Ort etwas Schönes gibt oder etwas funktioniert. Dann kommen sie wieder und erzählen es den anderen – das ist eine klassische Mund-zu-Mund-Werbung. Fragen Sie sich selbst: Wie kam es dazu, dass Sie irgendwo hingegangen sind? Es kann sein, dass Sie von jemandem eingeladen wurden oder jemand Ihnen davon erzählt hat. Es kann auch sein, dass Sie bei einem Leistungsträger ein günstiges Angebot gefunden haben.
Wenn man mit Hilfe dieser Ströme zusammen mit Leistungsträgern die zu erfüllenden Aufgaben identifizieren kann, gibt es vielleicht für diese Organisationen unterstützende Aufgaben, die von Leistungsträgern nicht gemacht werden können. Als der erste Kurverein in St. Moritz 1864 gegründet wurde, war er dazu da, den Gästen vor Ort zu helfen. Die Tourismusorganisationen haben sehr viel Geld nach aussen ausgegeben: Man hat kommuniziert, Vertriebssysteme ausgebaut und möglichst geschaut, dass man die Gäste anzieht. Dabei hat man vielleicht das Wichtigste vergessen, was vor Ort passiert. Und was vor Ort passiert, könnte nicht nur durch einen, sondern auch mehrere Leistungsträger über Projekte geführt werden.
Ich würde mir heute nicht anmassen, den Erfolg zu messen. Dieser ist heute so vielschichtig zu betrachten – je nachdem, wer ihn auch anschaut.
Und wie misst man in diesem Fall den Erflog einer Tourismusorganisation?
Der Versuch, alles zu messen, festzuhalten und zu vergleichen, liegt in der Natur der Menschen. Vergleiche sind eine Art Hitparade. Wir nehmen gewisse Zahlen und orientieren uns an diesen Zahlen. Ich würde mir heute nicht anmassen, den Erfolg zu messen. Dieser ist heute so vielschichtig zu betrachten – je nachdem, wer ihn auch anschaut. Ich würde mich aber an die Frage «Wo gibt es positive Zukunftsblicke, die man zeigen kann?» heranwagen. Heute würde ich nicht mehr auf Zahlen und Statistiken zurückgreifen, sondern rausgehen und mir ein Bild von verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten machen:
- Gibt es viele Gäste da?
- Gibt es viele Gäste, die durchgehen oder anhalten?
- Sind es Gäste, die miteinander reden?
- Entsteht ein Austausch kommunikativer Art (und nicht nur eine Transaktion)?
Das sind für mich Zeichen, dass es da womöglich gut läuft. Dann würde ich mich fragen:
- Wenn es hier gut läuft, wie sieht hier das Angebot aus?
- Gibt es hier nur etwas schnell zum Konsumieren?
- Ist es etwas, weswegen die Leute hier länger bleiben, sich mit dem Ort auseinandersetzen und im Endeffekt bereit wären, den Ort als zweite Heimat zu betrachten?
Im positiven Fall schafft das Kontinuität und eine längerfristige Beziehung.
Wie sind Sie auf das St. Galler Modell für Destinationsmanagement gekommen?
Wir haben zwischendurch immer wieder Hinweise über Rekonstruktionen im Raum, wo die Gäste durchgehen, bekommen. Das kann man heute mit modernen Technologien wie Heatmaps machen. Dann stellten wir fest: Es gibt viele verschiedene Ströme zu unterschiedlichen Zeiten. Einige laufen gut, andere laufen schlecht. Einige haben mehr Gäste oder die zunehmende Anzahl von Gästen. Diese Hinweise haben wir dann in zwei Pilotprojekten getestet, wo wir mit lokalen Tourismusorganisationen versucht haben, Leistungsträger auf Karten abzubilden. So stellten wir fest, dass Mitarbeiter, die mit den Gästen in Kontakt kommen, manchmal nur kleine Teile des Puzzles von vielen Strömen haben. Wenn wir das Instrument mit Strömen und Legenden an sie abgeben, können sie relativ einfach und intuitiv viele Informationen im Hinterkopf haben. Diese Informationen sind nützlicher als Statistiken, die man irgendwo abrufen kann.
Was sollen Mitarbeiter vor Ort machen?
Die Mitarbeiter an der Front sollen neue Ströme zeichnen und die Fragen wie «Was zieht die Gäste an?», «Welche Freizeitmöglichkeiten gibt es vor Ort?» beantworten können. Wenn man alte Ströme zeichnet, kann man auch feststellen, was am Sterben ist. Gleichzeitig erfasst man Daten, die dann an jeden einzelnen Leistungsträger zurückgespiegelt werden. So baut man das sogenannte Destinorama auf, dem man entnehmen kann, was funktioniert oder nicht funktioniert und was zu tun ist. Ich habe das zum Beispiel für das Heidiland gemacht. Insgesamt haben wir während 8 Workshops 203 Ströme identifiziert.
Es geht dabei um ein reiches Portfolio: Nicht nur Winter, nicht nur Sommer, nicht nur eine Art von Gästen aus einer Region.
Sie haben viel über das Destinationsmanagement geschrieben. Was macht heute eine gute Destination aus?
Die Vielseitigkeit der Ströme, die sich im längeren Zeitraum sich erneuern können, und die Fähigkeit der Akteure vor Ort, sich immer wieder neu zu erfinden. Es geht dabei um ein reiches Portfolio: Nicht nur Winter, nicht nur Sommer, nicht nur eine Art von Gästen aus einer Region. So soll eine gute Destination über mehrere Generationen hinweg eine Möglichkeit bieten, vom Tourismus zu leben.
Und die Antworten lauten nicht «Werbung», sondern «Mund-zu-Mund-Werbung».
Gibt es Case Studies, die Sie einem Destinationsmanager empfehlen würden?
Ich habe keine Case Study, die ich empfehlen würde. Meine Empfehlung für einen Destinationsmanager, der einen Schritt weiterzukommen versucht, wäre es, in einem Dorf oder Berggebiet herauszugehen und Gästen zu folgen. So kann man sich ein Bild davon machen, wie die Gäste eine Entscheidung treffen und warum. Das hilft auch zu verstehen, was die Ströme ausmacht, ob sie stabil sind, ob sie eine gewisse Bedeutung haben oder eher zufällig sind. Ich mache das auch zusammen mit Studierenden. Ich gehe raus durch die Strassen und frage die Gäste, wie es dazu kam, dass man heute hier ist. Und die Antworten lauten nicht «Werbung», sondern «Mund-zu-Mund-Werbung». Dann versuche ich gewisse Orte oder Strassen zu beobachten und frage, warum man lieber durch diese Strasse geht und nicht durch eine andere, warum es dort kein Geschäft oder Restaurant gibt usw. Ich würde auch jedem Destinationsmanager empfehlen, auf einem stark besuchten Stadtplatz einfach mal bei einem Kaffee draussen zu sitzen, eine oder zwei Stunden lang die Leute zu beobachten und zu kategorisieren:
- Was machen die Leute?
- Was sind das für Leute?
- Bleiben sie länger oder nur für kurze Zeit?
- Geben sie viel aus oder nicht?
Die Destination ist eine Art Ökosystem, das aus vielen kleinen Tierchen und Pflanzen besteht. Pflanzen sind Angebotselemente und Tierchen sind Touristen, die herumwandern. Je reicher und diverser das Ökosystem, desto grösser die Biodiversität der Angebote und Nachfrageformen. Planung für die nächsten 5 Jahre gibt es in diesem Kontext nicht. Es ist ein laufendes Lernen, Überprüfen und Handeln.
Die jüngere Generation braucht heute keine Pauschalreisen mehr.
Würden Sie Hauptkanäle hervorheben, wo heute Schweiz-Fans unterwegs sind und wo man sie auch erreichen kann?
In den fernen Märkten ist es ein klassisches Tour-Operator-Geschäft. Dieses kann 5 bis 10% aller Logiernächte ausmachen. Für gewisse Betriebe wie Bergbahnen ist es lebensnotwendig. Wenn man die neuen Märkte wie China betrachtet, stellt man fest, dass sich diese in Richtung mobiler und multilingualer Gesellschaft verändern. So sind z.B. Chinesen schon heute dank der Mund-zu-Mund-Werbung als Individual Foreign Travellers in der Schweiz unterwegs. Die jüngere Generation braucht heute keine Pauschalreisen mehr.
In den Lehrbüchern liest man überall, dass man sich spezialisieren, fokussieren und konzentrieren muss. Es klingt deshalb etwas seltsam, wenn ich Ihnen sage, dass Spezialisierung und Fokussierung keinen Sinn machen.
Würden Sie die wichtigsten Märkte hervorheben?
Je reicher und unterschiedlicher die Herkunft der Touristen, desto tiefer das Klumpenrisiko. In den Lehrbüchern liest man überall, dass man sich spezialisieren, fokussieren und konzentrieren muss. Es klingt deshalb etwas seltsam, wenn ich Ihnen sage, dass Spezialisierung und Fokussierung keinen Sinn machen. Für den Moment vielleicht, aber nicht in der langfristigen Perspektive. Ich bringe immer die Geschichte dieser Ströme mit dem Ameisenalgorithmus in Verbindung. Der Ameisenalgorithmus sagt, dass eine Ameise nach Pheromonspuren sucht. Wenn sie eine Pheromonspur gefunden hat, geht sie dieser nach, um nach Futter zu suchen. Je höher die Pheromonkonzentration, desto mehr Ameisen folgen den anderen, welche einen kürzeren Weg zum Futter gefunden haben. So entsteht eine Ameisenstrasse. Diese Strasse wird nie unendlich existieren: Andere Ameisen können besseres Futter gefunden haben oder das Futter kann weggetragen sein. Wie diese sozialen Spezies sich organisieren und koordinieren, kennt man aus den Naturwissenschaften. Bei den Menschen ist dies auch der Fall.
Wie würden Sie heute die Schweiz positionieren, damit mehr Gäste in die Schweiz kommen?
Die Schweiz liegt in der Mitte Europas. Alles ist mit den ÖV schnell zugänglich. In kürzester Zeit können Sie alles sehen und erleben. Es gibt auch noch einen alten Spruch «Switzerland works».